Neulich im Gespräch fiel, wie so häufig, mal wieder die Frage nach der psychologischen Rolle der Kindheit – ein bisschen ablehnend, ein bisschen trotzig, ein bisschen neugierig und ein bisschen bange. Am Ende des Gesprächs bin ich gebeten worden, hierzu doch einen Beitrag auf meine Seite zu stellen. Dieser Bitte komme ich sehr gerne nach.
Um es vorweg zu nehmen: die Kindheit ist natürlich sehr prägend, ob es einem nun gefällt oder nicht. Dennoch ist „die Kindheit“ weder schuld, noch sollte sie als Ausrede herhalten für anhaltende, eventuell sogar schädigende oder schädliche Verhaltensmuster, Schuldzuweisungen und ähnlichem.
Ein paar Hintergründe
Kindheit, Erziehung, die Rolle der Eltern, Großeltern und sonstigen Bezugspersonen, Erlebnisse, Vorbilder, Familienmuster, inner-familiär gelebte Glaubenssätze usw. – alle Aspekte sind an den Prägungen beteiligt, die im Laufe der Zeit ihre Spuren hinterlassen. Ein Leben lang, von der Geburt bis zum Tod, mal mehr und mal weniger, mal direkt durch eigenes Erleben und mal indirekt durch transgenerationale Weitergabe oder durch Zusehen.
Der entscheidende Unterschied, warum die Kindheit eine durchaus bedeutende Rolle spielt, ist: Babys und Kinder nehmen Ihre Umwelt anders wahr als Erwachsene. Das liegt einerseits daran, dass logisches Denken und Reflektieren sich bei ihnen erst entwickelt. Kinder nehmen Stimmungen im Umfeld also direkter auf der Gefühlsebene auf, ihre eigenen erwachenden Emotionen als Reaktion auf Erlebtes sind manchmal sehr überwältigend und müssen eingeordnet und verdaut werden. Diese Verarbeitung wird wiederum von den Reaktionen der Umgebung maßgeblich beeinflusst. Ein Kreislauf.
Erwachsene hingegen können mit etwas Übung jederzeit bewusst zwischen den Ebenen logisches Denken, Gefühl und Intuition wechseln, ja sogar den Übergang von einem zum anderen verfolgen, sich selbst beobachten, in eine Meta-Ebene wechseln, verschiedene Blickwinkel einnehmen, sich von Reaktionen anderer distanzieren oder abgrenzen und vieles mehr.
Ein weiterer Aspekt: im kindlichen Weltbild ist das Kind selbst der Mittelpunkt.
In Verbindung mit dem sogenannten magischen Denken bei Kindern entstehen völlig andere Interpretationen in Bezug auf Ursache und Wirkung als bei Erwachsenen. In der Folge können zum Beispiel Themen wie
- Schuldgefühle
- Scham
- Selbstwertentwicklung
- andere Personen sind vorrangig
- und vieles andere mehr
ein Problem werden.
Übrigens sind beide Entwicklungsstufen – der Mittelpunkt der eigenen Welt zu sein und das magische Denken – notwendig und wichtig, um zum Beispiel ein gesundes Ich-Bewusstsein zu entwickeln, als Vorstufe zum rationalen Denken, etc.
Im Kindesalter werden Erlebnisse also grundsätzlich anders wahrgenommen, interpretiert und verarbeitet als bei einem (sich selbst reflektierenden) Erwachsenen. Selbst innerhalb der Familie, unter Geschwistern, wird sich sehr wahrscheinlich der eine anders erinnern als der andere. Was dementsprechend auch unterschiedliche Folgen in der jeweiligen Psyche nach sich zieht. Es kommt in der Hauptsache somit darauf an, WIE ein Erlebnis hängen bleibt.
Wenn Sie nun dem auf den Grund gehen, was Sie in ihrer Kindheit geprägt hat, geht es jedoch nie um Schuldzuweisungen (an Familie, andere beteiligte Personen oder gegen sich selbst). Das würde niemandem weiter helfen, am wenigsten Ihnen selbst.
Im Gegenteil: es nimmt Ihnen Ihre Freiheit, Ihre Entscheidungs- und Wirkungsmacht über Ihr eigenes Leben, Ihre Möglichkeit der Weiterentwicklung. Wie bereits im Beitrag „Beziehungen, Liebe und all das…“ erwähnt, geht es vielmehr um ein Verständnis für Ursachen, Zusammenhänge, Auslöser.
Es geht darum, sich selbst UND andere zu verstehen, mit Abstand neu zu betrachten. Und dann zu entscheiden, ob die eigenen (kindlichen) Interpretationen dieser Erlebnisse und Prägungen und deren Folgen im Erwachsenenalter noch Bestand haben sollen. Welche Sichtweise oder innere Haltung Sie stattdessen einnehmen möchten. Was Ihr neuer Kompass werden soll.
Ein starkes Ich
Das alles bringt Sie in Ihre eigene Stärke und Selbstverantwortung, verändert den Fokus von der unveränderlichen, da bereits passierten Vergangenheit hin zu den Gestaltungsmöglichkeiten der Gegenwart.
Nutzen Sie Ihre eigene Kindheit als eine Möglichkeit, sich selbst bewusster zu werden und einen neuen Blick auf alles zu wagen. Mit dem Fokus auf sich statt auf andere. Geben Sie sich für alles ausreichend Zeit. Gehen Sie mit Wohlwollen, Geduld, Ausdauer und Mut an diese Entdeckungsreise heran. Und wenn Sie an Grenzen stoßen oder traumatisierende Ereignisse vorliegen, suchen Sie sich professionelle Hilfe.
Ihre Kindheit ist nicht „schuld“. Dennoch hat sie einen sehr prägenden Einfluss auf Ihr Leben bis zu dem Zeitpunkt, an dem Sie sich mit ihr auseinandersetzen. Viel Erfolg dabei!