Haben Sie bei einem Streit schon mal ernsthaft beiden Parteien zugehört? Ohne sich selbst mit reinziehen zu lassen, sprich parteiisch zu werden? Gar nicht so leicht, oder?
Denn wenn Sie dem einen zuhören, ist meist völlig plausibel, dass die andere Konfliktpartei „schuld“ ist. Gehen Sie jedoch auch zur zweiten Konfliktpartei, wird es verzwickt. Denn aus deren Sicht verhält es sich natürlich genau gegensätzlich. Und diese Sichtweise ist aus einer neutralen Position heraus ebenso nachvollziehbar wie die der ersten Konfliktpartei.
Täter und Opfer im Konfliktfall
In der Fachsprache sehen sich beide Parteien als Opfer. Die jeweilige Gegenseite muss dann ja automatisch der Täter, also schuld an allem, sein. Das ist im Strafrecht so und hat sich auch in die grundsätzliche gesellschaftliche Sichtweise so eingebrannt: ein Täter ist ein Täter. Punkt.
Nur hätten wir dann aus Sicht der Konfliktparteien zusammen genommen zwei Opfer und gleichzeitig zwei Täter, obwohl nur zwei Parteien beteiligt sind. Geht das überhaupt? Zwischenmenschlich betrachtet ist es also nicht ganz so einfach und eindeutig.
Schuld oder Verantwortung?
Da stellt sich als erstes die Frage, ob es tatsächlich um Schuld geht oder vielleicht doch eher um Verantwortung. Und ob beides dasselbe ist.
Ich kürze die Sache ab: nein, es ist nicht dasselbe. Genaueres zur Unterscheidung erfahren Sie demnächst in einem eigenen Artikel.
Im normalen Konfliktgeschehen (normal ist hier wirklich ziemlich weit gefasst) spreche ich von Verantwortung.
Doch was ist eigentlich Verantwortung?
Verantwortung bedeutet zu dem zu stehen, was man tut oder unterlässt, sagt oder verschweigt. Sich klar zu machen, das man sich auch anders verhalten könnte. Anzuerkennen, dass es immer eine Wirkung gibt zu dem, was man in eine Situation hineingibt.
Wenn nun die Wirkung eine andere ist als das, was man möchte, ist (Selbst-)Reflexion, Analyse und verändertes Verhalten besser dazu geeignet, die Situation zu drehen und den Konflikt zu beenden, als Schuldzuweisung oder Schuldgefühle.
Jemand anderen kann ich nur schwer beeinflussen, ich selbst kann jedoch immer auch anders entscheiden oder mindestens dem auf den Grund gehen, warum ich mich so und nicht anders verhalten habe. Je nachdem wie ich mich entscheide und verhalte, entwickelt sich eine Situation ganz unterschiedlich.
Somit hätten wir die Frage in der Überschrift geklärt: in den meisten Fällen ist keiner schuld, jedoch haben alle Beteiligten Verantwortung dafür, wie eine Situation sich entwickelt.
Zwei Beispiele
Um das Ganze noch etwas klarer zu machen zwei kurze Beispiele, bei denen ich die Begriffe Täter und Opfer zur Darstellung weiter verwende.
Beispiel 1
Stellen Sie sich eine Führungskraft im mittleren Management vor. Von deren Vorgesetzten kommt ziemlich viel Druck. Sie soll Vorgaben erfüllen, die einfach nicht zu schaffen sind. Ganz abgesehen davon, sind viele Vorgaben einfach nicht sinnvoll, wenn diese bis zu Ende gedacht werden.
Die Führungskraft gibt – ganz automatisch – den Druck nach unten zu den Abteilungsleitern weiter. Und diese zu den Teamleitern. Und diese wiederum an die Mitarbeiter ihrer Teams. Bis die Mitarbeiter schließlich nur noch Dienst nach Vorschrift machen, weil der gesammelte Druck von oben weder angemessen noch fair noch zielführend ist und letztlich auch massive Kränkungsdynamiken auslöst.
Ist diese Führungskraft nun Täter oder Opfer? Oder letztlich beides?
Genau genommen beides.
Sie ist Opfer, da sie etwas auffangen soll, was von vorne herein nicht zu schaffen ist bzw. keinen Sinn macht. Der Druck von oben ist sicher keine einfache Sache. Sich ständig für sinnlose Erwartungen rechtfertigen zu müssen entwürdigend und der Sache überhaupt nicht dienlich.
Gleichzeitig ist die Führungskraft auch Täter, denn sie gibt die bei ihr entstandenen Kränkungen 1:1 nach unten weiter. Und produziert damit weitere Kränkungen, die die grundsätzliche Situation weiter verschlimmern und die Zahl der Betroffenen weiter vergrößern.
Beispiel 2
Versetzen Sie sich in eine Situation wie in vielen Beziehungen: Ihre Partnerin ist in letzter Zeit oft ungehalten. Sie haben das Gefühl, Sie können ihr nichts recht machen, ständig kommt Kritik und Genörgel.
Da Ihnen die ständigen Konflikte ziemlich an die Nieren gehen, weichen Sie ihr immer mehr aus. Überstunden im Büro, Sie legen Extraeinheiten Sport ein und der Nachbar kommt mit seinem Handwerkerproblem auch sehr gelegen, um der Situation aus dem Weg zu gehen.
Die Folgen? Sie sind kaum noch zu Hause und Ihre Partnerin läuft quasi Amok. Sie fühlt sich weder gesehen, noch gehört oder gar ernst genommen. Der Dauerstreit droht vollends zu eskalieren. Da sowieso ein Wort das nächste ergibt, schweigen Sie lieber. Vermeintlich kann es ja kaum schlimmer kommen. Seltsamerweise beruhigt sich die Situation dadurch nicht. Sie fühlen sich hilflos, haben keine Idee, wie Sie wieder in ruhigere Gewässer gelangen können.
Wie steht es hierbei? Sind Sie Täter oder Opfer oder beides?
Sie ahnen es schon – natürlich wären Sie in diesem Beispiel Täter und Opfer. Doch woran liegt das?
Zum einen sind da die ständigen Angriffe. Wenn man eventuell gar nicht versteht, warum diese Angriffe erfolgen, man sich mit seiner Position im Recht fühlt oder sich hilflos ausgeliefert fühlt, wenn Kränkungen geschehen, gerät man schnell in eine (innere) Opfer-Haltung.
Zum anderen sind da die eigenen Re-Aktionen. Ausweichen und schweigen zählt zu den Beziehungskillern. Das ist zum Beispiel ein Teil, der als Täter-Anteil zu sehen ist. Auch damit wird eine Kränkungsdynamik in Gang gesetzt.
In den Beispielen wird schon klarer, warum es keine simple Schuldzuweisung in Konflikten geben kann.
Fazit: Es ist häufig wirklich nicht einfach, einerseits den eigenen Anteil an Konfliktsituationen zu erkennen und sich andererseits trotz Kränkungen auf entschärfende Reaktionen zu besinnen. Dennoch – wenn Ihnen die Zusammenarbeit, die Beziehung, die beteiligten Menschen wichtig sind, lohnt es sich.